2014-06-01 RUS-06 Kazan

Tänzerin in Kazan

Sonntag, 08.06.2012
Heppo hatte sich noch in Susdal beschwert, dass er einen Kulturschock vermisse. Alles sei so westlich und fast genauso wie Zuhause. Spätestens aber in diesem Vorort von Kazan haben wir einiges entdeckt, was uns zum Nachdenken bewegt:

Da wäre zum einen die Wasserknappheit, die ich bereits erwähnt habe.
In der Werkstatt und auch bei den Nachbarn nebenan wird das Wasser rationiert bzw. ganz gekappt. Die Mechaniker kaufen sogenanntes „technisches Wasser“ . Dieses darf man nicht trinken, und wir vermuten, dass es sich dabei um einen beschönigenden Begriff handelt, der verschmutztes Wasser bezeichnen soll. Aber das wissen wir nicht genau, es könnte auch destilliertes Wasser sein.

Trinkwasser kann man an sehr harmlos aussehenden, kleinen Buden literweise kaufen. (Das schockiert uns am meisten). Der Liter kostet 6 Rubel, also ca. 3 Eurocent. Zum Vergleich: In Deutschland kostet der Liter 0,2 Cent, und das Wasser kommt direkt aus der Leitung. Die Wasserkioske tragen groß den Spruch aufgedruckt: „Klutsch K Starovie“ – „Der Schlüssel zur Gesundheit“.

Auch die Arbeitszeiten der Mechaniker lassen nicht nur deutschen Gewerkschaftlern die Haare zu Berge stehen. Unsere fleißigen „Rabotschniks“ haben zwar erst um neun oder zehn Uhr mit der Arbeit begonnen, aber so ein Werktag dauert durchaus bis früh morgens um zwei Uhr. Ein Wochenende gibt es nicht. Nach der Arbeit  legen sich die Männer in die Brotzeitkammer (ohne sich die Hände gewaschen oder geduscht zu haben) und schlafen auf den Holzbänken. Am nächsten Tag geht es weiter (natürlich wieder ohne Wasser) –  und das für ein paar hundert Euro im Monat.

Lebensmittel sind genau so teuer wie bei uns. Der Supermarkt hat rund um die Uhr mit der immer gleichen Belegschaft geöffnet. Im Hinterhof des Supermarktes verbrennt der Hausmeister drei Mal täglich den Müll.

Hunde darben an kurzen Ketten ohne Wasser und Essen in der Gluthitze.
Die Birken sind wegen den verseuchten Böden abgebrochen und verdorrt.
Rundum brennen die Fackeln der Erdöl- und Gasindustrie von Gasprom.
Es stinkt.
Endzeitszenario.

Die Bewohner sind aber trotz allem guter Dinge und finden, dass sie es gut getroffen haben.

Nur wenige Kilometer weiter in der Innenstadt von Kazan ist hingegen alles wunderbar. Der trockene Rasen wird mit Wassersprenklern grün gehalten, und sogar Blumen gibt es. Die eindrucksvollen Gebäude (Kirchen, Moscheen und die Regierungsgebäude der autonomen Republik Tartastan) glänzen in der Sonne um die Wette. Schöne Frauen mit luftigen Sommerkleidern balancieren mit Stöckelschuhen über die Flanierpromenade an der Wolga. Junge Leute tanzen auf Straßen und öffentlichen Plätzen Volkstänze oder Breakdance. Skater üben Sprünge auf feinstem Teer. Schnell vergisst man in diesem Glanz, was vor den Toren der Stadt geschieht. Und wenn man in Kazan mit dem Flugzeug landet (z.B. um ein Spiel der Bayern gegen Rubin Kazan im hochmodernen Fußballstadion zu erleben), bekommt man von der Tristesse der Vororte überhaupt nichts mit.

Aber einem genaueren Blick hält auch der Prunk der Stadt nicht statt. Die klassisch wirkenden Gebäude sind wahrscheinlich nur wenige Jahre oder Jahrzehnte alt, der Marmor der Moschee ist nur aufgeklebt, und die neu angelegte Promenade beginnt schon wieder zu verfallen. Die Reichen und Schönen verschanzen sich in videoüberwachten Wohnvierteln hinter hohen Mauern.

Trotzdem, Kazan ist schön – westlich und exotisch zugleich. Neben den runden Kuppeln der orthodoxen Kirchen ragen die spitzen Türme der Minarette in die Höhe. Die Bewohner der Stadt sind tatsächlich so aufgeschlossen und nett wie der Reiseführer verspricht. Wir haben einen Luxusstellplatz gefunden, direkt vor dem Kreml und dem Landwirtschaftsministerium, unweit der Flanierpromenade (für nur 100 Rubel – gut zwei Euro pro Tag und Nacht). Für die Einheimischen sind wir eine Attraktion, sie möchten gerne unsere Bekanntschaft machen und einen Blick in den LKW erhaschen. Laufend wird unser Mercedes fotografiert. Mit den jungen Tänzer/innen Christina, Nina, Igor und Ildar besuchen wir abends eine Bar mit Jazz Livemusik. Die Gruppe interessiert sich sehr für uns und unsere Reise und fragt uns Löcher in den Bauch. Die Vier haben auch schon einiges von der Welt gesehen, waren in China zum Studieren und fahren regelmäßig nach Amsterdam, Prag und Berlin auf internationale Tanzwettbewerbe. Nina ist Vegetarierin und die Tochter von Hare Krishna Eltern, sie studiert Psychologie und arbeitet nebenher als Tschai-Master (Tee-Zeremonienmeisterin) in einem Restaurant. Und alle geben sie Tanzstunden. Wir haben uns viel zu erzählen, denn wir haben das Gefühl, einiges voneinander lernen zu können.

Montag, 09.06.2014
Es ist immer noch unglaublich heiß. Und so bummeln wir tagsüber nur wenig motiviert durch die Innenstadt.
Wir besuchen das Socialist Lifestyle Museum, das man sich sparen kann, es sei denn. man steht auf alten Plunder.

Essen gehen ist mindestens genauso teuer wie in Deutschland, daher sind wir froh. eine Kantine zu finden, in der wir original russisch-tatarisch essen können, (alles vegetarisch). Für weniger als 10 Euro werden wir alle mehr als nur satt und haben einen Großteil der Speisen probiert: Kraut mit Möhren, Teigtaschen gefüllt mit Kartoffeln, Borschtsch, Wareniki, Bratkartoffeln mit Pilzen, Rote-Beete-Salat, Käsekuchen und Beerensaft (Mors).

Den Nachmittag verbringen wir im Laster vor dem Computer und hoffen auf eine Abkühlung. Leider bringen die dicken Wolken nur wenige Tropfen Regen und mäßig Wind. Kurz darauf ist es genauso drückend wie zuvor.

Abends spazieren Heppo und ich noch einmal durch den Kreml, dann durch die Karl-Marx-Straße bis zum Tor der Liebenden, wo man durch eine besondere Akustik, mehrere Meter voneinander getrennt, sich flüsternd unterhalten kann. Weiter gehen wir durch das Regierungsviertel und zurück über die Flaniermeile an der Wolga. Wieder gibt es viel zu sehen. Heimlich fotografiere ich die langbeinigen Mädchen, die Familien, die Skater, die Tänzer und die Bodybuilder, die hier ihr tägliches Schaulaufen veranstalten.

Dienstag, 10.06.2014
Über 30 Grad und kein Lüftchen. Vor unserem Laster wuseln 30 oder 40 Arbeiter, die die Parkanlage nebenan in Schuss halten. Die Bänke werden neu gestrichen, der trockene und gelbliche Rasen wird gemäht und gedüngt (ob das mal so gut ist?) und es wird großzügig Herbizid versprüht, das Ende für den Roten Klee, die Kamille und die Schafgarbe. Schade! Es ist eine bunt zusammengewürfelte Truppe aus Rentnern und jungen Leuten; das könnten entweder Freiwillige sein oder Menschen, die Sozialstunden abzuleisten haben. Mit den Chefgärtnern haben wir uns angefreundet, und da sie sowieso gerade dabei sind, den Rasen zu gießen, fragen wir hier nach, ob wir unsere Brauchwasser-Vorräte auffüllen können. Kein Problem, wir dürfen uns gut 120 Liter abzweigen. Wasser gibt es ja im Überfluss.

Ein kleiner dicker Mann mit Bundfaltenhosen und Hemd, der aus einem Firmenauto mit dem Logo einer Milchfirma aussteigt, verwickelt mich in ein Gespräch und stellt mir allerhand komische Fragen – über uns, unseren Hund und unsere Reise. Umgekehrt antwortet er nur sehr ausweichend auf meine Fragen. Ich entwickle eine leichte Paranoia. KGB? Vielleicht sollte ich weniger kritisch über Russland berichten und keine Industrieanlagen fotografieren. Andererseits wollte ich schon immer von einem Geheimdienst angeworben werden. Den Gehaltscheck in Dollar oder Rubel könnte ich gut brauchen!

Der Mann vom KGB empfiehlt uns noch, unsere „Marschrut“ zu ändern. Wenn wir in den Iran wollen, sollten wir keinesfalls über Tadschikistan fahren, das sei zu unsicher. Er empfehle uns die sichere Route über Tschetschenien, Dagestan, Azerbaidschan. Dort sei alles paletti und überhaupt kein Problem. Herrje, die Welt ist verrückt. Das ist dann wohl, was man in Russland über Tschetschenien und Tadschikistan hört. Solche Aussagen beweisen doch, dass wir alle einer gewissen Propaganda unterliegen. In Russland gibt es also kein Problem mit Tschetschenien…?

Schließlich gibt er mir noch Kleidungstipps für den Iran. Mit einem abschätzigen Blick auf meine Hippieklamotten meint er, dass ich so gekleidet meinen Aufenthalt im Iran im Gefängnis verbringen werde. Oh Mann, der Typ nervt. Der meint wohl, ich sei „auf der Brennsuppe daher geschwommen“ – wie man in Bayern so schön sagt.

Nach einem kurzen Ausflug in die Innenstadt (Internetstick aufladen und Besuch in der Kantine) kehren wir Kazan den Rücken und fahren weiter Richtung Ufa und den Ural. Regen bringt die gewünschte Abkühlung.


Kasan Stellplatz, sehr zentral auf einer größeren Karte anzeigen

Unseren Stellplatz wählen wir auf einer hügeligen Wiese etwas abseits von der Hauptstraße, ca. 70 Kilometer östlich von Kazan. Fast hätte es noch ein Fiasko gegeben. Durch den Regen ist der lehmige Boden zu einer Rutschbahn geworden, und unser Lastwagen beginnt seitlich bergab zu schlittern. Nach einem halben Meter kommt er in einer gefährlichen Schieflage zu stehen, auch der Allrad-Antrieb hat hier keine Chance. Weiterfahren ist so auf jeden Fall unmöglich, ohne den Laster im Bach weiter unten zu versenken. Es folgt eine Übung „LKW Bergung“: Zwei Stunden lang schottern wir den Boden, legen Zweige aus und graben die obersten Zentimeter schlammigen Boden ab. Erst dann können wir unseren LKW wieder bewegen und gefahrlos parken. Yeah, Offroad! So was macht ja schon fast wieder Spaß.

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3 Gedanken zu „2014-06-01 RUS-06 Kazan

  1. admin_brit Beitragsautor

    Liebe Babu, es freut mich, dass Du mitliest und anscheinend eine Freude daran hast.
    Ganz liebe Grüße an Euch alle. Wir denken an Euch und Zuhause 🙂

Kommentare sind geschlossen.