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Der Teufel – Karlsbrücke, Prag (1994)

Seit der Öffnung der Berliner Mauer und dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 war Prag für uns ein gern und oft besuchtes Reiseziel geworden. Die Stadt war in nicht einmal drei Stunden mit dem Auto zu erreichen, das Bier war gut und Gras gab es an allen Ecken der Stadt zu kaufen. Selbst für uns Schüler und Studenten war es dort absurd billig. Der halbe Liter Bier kostete umgerechnet nur 25 Pfennige.
Zudem hatte Prag für uns fast etwas Exotisches, denn bis vor kurzem herrschten hier noch Sozialismus und Kommunismus. Konzepte, die wir zwar nur aus der Theorie kannten, die aber unsere Vorstellung von der politischen Weltordnung bisher entscheidend geprägt hatten. Als Kinder des 80er-Jahre-Kapitalismus und des Alles-Jederzeit-und-Immer war es für uns schier unbegreiflich, dass dort in einem Kaufhaus am Wenzelsplatz in einer Vitrine nur eine einzelne goldene Uhr ausgestellt war. Die Läden waren leer. Erst in den kommenden Jahren begannen sich diese zunehmend mit westlichen Konsumgütern zu füllen.
Wir waren aber nicht hier um einzukaufen, sondern um „Pivo“ zu trinken und Party zu machen. Sogar eine oder zwei deftige Mahlzeiten konnten wir uns täglich leisten. Diese waren der heimischen bayerischen Kost nicht unähnlich. Man tischte uns Hefeknödel auf und Blaukraut, dazu ein Stück Schweinefleisch, dessen Gewicht stets in Gramm angegeben wurde. Gratis zu alledem gab es ein jugendlich frisches Gefühl des Aufbruchs. Die Stadt hatte Charme und befand sich in einem interessanten Zustand, einer Mischung aus Verfall und Neuanfang. Die Gebäude waren grau und dreckig, die Straßen sanierungsbedürftig und vor allem die alten Menschen wirkten oftmals farb- und freudlos. Vielleicht waren sie auch einfach nur rat- und orientierungslos angesichts der Ereignisse der letzten Jahre. Aber nach der sogenannten Samtenen Revolution, die zum abrupten Ende der Tschechoslowakei geführt hatte, war klar, dass hier Geschichte neu geschrieben werden würde. Vor allem die jungen Menschen schienen dieses Gefühl zu genießen. Zusammen mit ihnen schlugen wir uns die Nacht im Untergrundclub „Bunkr“ um die Ohren, wo das bittere Bier aus goldenen Zapfhähnen floss und 24 Stunden am Tag laute Rockmusik gespielt wurde. Nicht immer waren die Hits die gleichen wie bei uns, doch das erhöhte nur den Reiz der Sache. Trotz Sprachbarriere verstanden wir uns gut mit den Einheimischen, auch wenn die Gespräche eine gewisse intellektuelle Tiefe missen ließen.
Und wie war das gleich noch einmal? Hießen die Menschen in diesem Land nun Tschechoslowaken oder Tschechen? Die Ereignisse hatten sich überschlagen. Gerade eben nannte sich der föderative Staat noch Tschechoslowakei, wohingegen die Slowaken auf den Gedankenstrich bestanden und Tschecho-Slowakei schrieben. Kurz darauf sprach man von ČSFR oder der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik. Ende 1992 beschloss man jedoch deren Auflösung. Ab 1993 gab es dann zwei neue Staaten, nämlich Tschechien und die Slowakei.
Uns war das ziemlich schnuppe, wir streiften lieber durch die Stadt. Damals wie heute war die Karlsbrücke ein fast magischer Anzugpunkt, führt sie doch über den legendären Fluss Moldau und verbindet die Altstadt mit der sogenannten Prager Kleinseite. Die Karlův most, wie die Brücke auf tschechisch heißt, ist eine der ältesten Steinbrücken Europas. Sie wurde im 14. Jahrhundert errichtet. Über 30 Statuen wachen über das imposante Bauwerk, die meisten davon stellen Heilige dar, zu ihren Füßen befinden sich Apostel. Aber da sind auch Inquisitoren, Kirchengelehrte, Engel, Sünder und Ungläubige, Könige, Löwen, ein Hirsch, ein Hund und ein weinender Teufel. Letzterer sitz neben dem Heiligen Procopius von Sázava. Prokopius, der als Einsiedler in einer Höhle im Sázavatal lebte gründete etwas später ein Benediktinerkloster. Dabei zeigte er besonderen Eifer und spannte dafür sogar den Teufel vor den Pflug. Der Heilige muss dem Armen sehr zugesetzt haben, denn warum weinte er sonst?
Prag war damals noch nicht dieser von Touristen überlaufene Ort, der er heute ist, doch müssen auch Anfang der 90er Jahre schon etliche Touristen ihren Weg hierher gefunden haben, denn wie wäre sonst die Präsenz der vielen Straßenmaler zu erklären gewesen? In der Hoffnung auf Devisen versuchten sie mal mehr und mal weniger gelungene Stadtansichten oder eigene fantastische Kreationen als Souvenirs an die Fremden zu verkaufen.
Für weniger als zehn Mark erwarb ich eine kleine Radierung von einem fliegendem Fisch, der vor einem Planeten schwebt. Das Bild begleitet mich bis heute und erinnert mich an diese Zeit.
Eher erschreckend fand ich hingegen den Mann, der stets in der Nähe des Hotel U Tri Pstrosu unter der letzten Lampe am Altstädter Brückenturm saß. Er hatte einen selbstgebastelten Haarreif im schütteren grauen Haar stecken, auf dem rundliche, rote Teufelshörner aus Holz befestigt waren. In einem kleinen Spiegel betrachtete er sich selbst, streckte die Zunge heraus und malte sein Gesicht zu einer teuflischen Fratze erstarrt. Mit flottem Pinselstrich waren seine Bilder mit Wasserfarben getuscht. Wohl mehr aus wirtschaftlichem Kalkül als aus wirklicher Leidenschaft stellte er neben seinen diabolischen Selbstporträts auch ein paar Ansichten von Prag zur Schau. Der Uhrenturm, das goldene Gässchen und die Burg zählten zu seinen Motiven. Auch diese Bilder waren mit schneller Hand und einem expressionistischen Gestus gemalt. Im Gegensatz zu seinen bunten Teufelsdarstellungen waren diese aber stets in schwarz-weiß gehalten.
Und wenn Touristen ihn baten, ein Bild von ihnen anzufertigen, dann wurden sie meist als Teufel dargestellt. Es gibt eine Anekdote: “Als ein Tourist ihn um ein Porträt bat und nach einem Rabatt fragte, zerriss der Künstler, nachdem er mit dem Malen fertig war die Zeichnung und überreichte dem Mann nur eine der beiden Hälften.“
Ich selbst habe nie mit ihm gesprochen, denn ich fürchtete mich ein bisschen vor dem Teufel der Karlsbrücke und fragte mich, ob sein Verhalten eine Verkaufsmasche war oder, ob Antonin Votava, so hieß der Straßenkünstler nämlich, nicht alle Tassen im Schrank hatte. Wie ich mutmaßten viele, er sei verrückt, währen einige ihn hingegen für ein Genie hielten. Zu einer lokalen Berühmtheit war er schon längst geworden, denn damals wurde er in fast jedem Reiseführer erwähnt. Leider findet man außer Oberflächlichkeiten fast nichts über das Leben und Werk dieses Mannes, der in Prag nur čert genannt wurde, Teufel.
Nicht nur ich habe wohl verpasst ihn nach seiner Geschichte zu fragen, sondern auch andere, denn sonderlich viel ist heute nicht über ihn unbekannt. Tonda, so sein Spitzname, wurde 1943 geboren. Seit 1969 arbeitete er, wie ein Besessener, auf der Karlsbrücke. Fast bei jedem Wetter war er dort zu finden und wurde bald so etwas wie ein inoffizielles Wahrzeichen der Stadt. Votava litt an Multiple Sklerose und Arthrose und starb am 22. Oktober 2009 in einem Krankenwagen, in den Armen seiner Frau.
Immerhin erwarb der Direktor der Prager Nationalgalerie Milan Knížák etwa ein halbes Jahr vor seinem Tod elf Bilder des Künstlers zu einem symbolischen Preis von 1000 Kronen pro Stück und zeigte diese im Rahmen einer Ausstellung:
„Wir wollten zeitgenössische tschechische Kunst präsentieren und die ganze Szene bis in ihre kuriosen Ecken abdecken. Votava war einer dieser „Ecken”. In seinem Fall ging es nicht um künstlerische Qualität, sondern um eine interessante Haltung, die ein bisschen verrückt, aber hartnäckig und in gewisser Weise aktuell war: Die Teufel unter den Menschen werden scheinbar immer mehr. Ich sehe seine Arbeit als ein besonderes konzeptionelles Werk. Keine einzelnen Zeichnungen, sondern ein Leben als permanente Performance. (…) er war einer von diesen Narren, die unsere Gesellschaft beleben, während sie sie auf seltsame Weise beschreiben und bereichern.“
Auch sein Weggefährte, Honza Dvořák, ebenfalls ein Maler auf der Karlsbrücke, erinnert sich an gemeinsame Erlebnisse mit ihm: „Die Polizisten jagten uns oft über die Brücke. Sie verbrannten seine Bilder, aber er kam immer wieder zurück und malte neue.“
Gerüchte besagen, dass er eine Frau hatte und zwei Söhne, dass er im Stadtteil Michle wohnte und sogar ein Atelier in der Altstadt hatte. Trotzdem zog er es vor, bei Wind und Wetter auf der Karlsbrücke zu sitzen, angestarrt, verfolgt und für verrückt erklärt zu werden.
Wenn ich jetzt die wenigen Bilder betrachte, die man über Antonin Votava im Internet findet, sehe ich nichts Schreckliches an ihm. Im Gegenteil, ich sehe einen kleinen, älteren, braungebrannten und muskulösen Mann mit sehr freundlichen und lachenden Augen, die er mit zunehmendem Alter immer häufiger hinter einer runden Nickelbrille verbarg. Ich sehe einen, der wohl irgendwie versuchte in Zeiten des Umbruchs ein Auskommen zu finden. Ich sehe einen verkannten Künstler, dem es vielleicht an wirklicher Größe fehlte, der sich aber auf seine Weise ein kleines Stück Unsterblichkeit schaffte und dessen Bilder immerhin ihren Weg in die Prager Nationalgalerie fanden. Sogar die Hörner, die mich damals so erschreckten, wirken auf mich heute eher wie Mickey-Maus-Ohren.
Ich wünschte nun, ich hätte ihm eines seiner Selbstporträts abgekauft, oder wenigstens eine seiner Stadtansichten. Die zehn Mark, die das Bild wahrscheinlich gekostet hätte, hätte ich mir sogar damals locker leisten können, und für Antonin wären es drei warme Mahlzeiten gewesen.
Ich hoffe, dass der Teufel der Karlsbrücke nun im Malerhimmel ist, dass er es dort schön hat und warm, frei von Zugluft und genug zu essen. Und, das ist vielleicht das Wichtigste, dass er verschont bleibt von jungen, ignoranten und bekifften Touristen!

Nordböhmen-Artikel in Clever Campen 03/2019

Gerade halte ich das Belegexemplar von Clever Campen in Händen. In der Ausgabe 03/2019 könnt Ihr meinen Reisebericht über unsere Wohnmobil-Tour nach Nordböhmen, Tschechien lesen.

Weitere Bilder von unserm Tschechien-Urlaub findet Ihr hier.

Frau Scherer und ihr Team lieben es zwar exotisch, aber Nordböhmen hat uns dann doch alle positiv überrascht

Clever Campen, mit dem Wohnmobil nach Tschechien

Frau Scherer in Clever Campen

Tschechien 2018

30.07. – 13.08.2018:
Nordböhmen (Elbsandsteingebirges) – Böhmisches Paradies – Riesengebirge

„Ganz wichtig: Nicht Russisch sprechen! Und, keinesfalls nackt zum Baden gehen.“ Das gibt uns unser Freund Robi als Reisetipp für unseren Urlaub in Tschechien mit auf den Weg. Und er fügt dann noch hinzu: “Die Tschechen sind nämlich sehr prüde!“ Weiterlesen

Slowenien 2017
Ein rückwärts erzählter Reisebericht von viel zu kurzer Fahrt

Brücke in Ljubljana

Brücke in Ljubljana

Tipp: Super-WoMo-Stellplatz in Ljubljana (hässlich, aber zentral, Nähe Metelkova Mesto. Mit WC und Dusche im Hinterhof einer privaten Waschanlage zu 15 Euro pro Nacht): Masarykova Cesta Ecke Njegoseva Cesta).

Das Fazit schicke ich gleich voraus: Zwei Wochen mit dem Laster sind ein Witz. Bevor man überhaupt losgefahren ist, kann man schon wieder umdrehen. Frau Scherer und auch wir sind das kurze Reisen einfach nicht gewöhnt. Das nächste Mal, so sind wir uns alle einig, müssen wir wieder länger und weiter weg fahren.

Im Hafenstädtchen Piran

Im Hafenstädtchen Piran

So war es dieses Mal also nur ein Kurztrip nach Slowenien, quasi Otto-Normal-Urlaub.
Frau Scherer freute sich trotzdem, endlich wieder heißen Asphalt unter ihren großen Reifen zu spüren, und auch unser Hund Sidi blühte „on-the-road“ sichtlich auf. Schon beim Packen wich er nicht mehr von Scherers Seite. Ja, und auch wir fühlten es wieder, das Reisekribbeln, den Ruf der Landstraße, den unwiderstehlichen Sirenengesang der Freiheit… Was für ein wunderschönes Lied!

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