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Montag, 16.02.2015
Heute ist Rosenmontag, und die Welt macht mir Angst.
Geht es eigentlich jemand anderem auch so? Wenn ja, bitte melden!
Vielleicht sollte ich keine Zeitung mehr lesen. Aber nun ist es schon einmal geschehen.
In der Kleinstadt Zanjan funktioniert das Internet plötzlich in Highspeed Qualität, so dass ich mir die Online-Ausgabe der ZEIT auf meinen E-Book-Reader laden kann.
Es kriselt schwer an allen Ecken dieser Welt.
Was veranstaltet da eigentlich Putin in der Ukraine?
Warum fällt Amerika nichts weiter ein als Waffen liefern zu wollen?
Welche wichtige Rollen spielen nun plötzlich Europa und sogar Deutschland?
Und was passiert da gerade in Griechenland mit dem Euro?
Was ist mit der europäischen Idee?
Und warum diese Gewaltexzesse im Namen eines sogenannten islamischen Gottestaates, der in der arabischen Welt übrigens „Daesh“ genannt wird…?
Ist dies eine Ausgangsituation, die zu einem dritten Weltkrieg führen kann?
Was ist nur mit den coolen neunziger Jahren geschehen, als wir dachten, die Welt wäre auf dem Weg zu einer großen, friedlichen Gemeinschaft?
Zumindest haben wir das in Europa geglaubt, oder?

Und was machen wir alle gerade? Wir tun weiter so, als wäre nichts geschehen.
Statt uns ein Lochversteck im Wald zu graben, nach Grönland auszuwandern, Selbstverteidigung zu lernen oder schon mal vorsorglich Vorräte einzuwecken, interessiert uns weiterhin nur das neue iphone im gebürsteten Goldlook.

Für ein mögliches Szenario fühle ich mich persönlich aber gut gewappnet: Sollte Russland Europa übernehmen, so werde ich die weiße Fahne hissen, den Eindringling mit einem freundlichen „Strastwujite“ begrüßen und meine Übersetzungsdienste anbieten.

Dienstag, 17.02.2015
Zumindest Heppo lässt sich die Laune nicht verderben und geht frühmorgens in Zanjan zum Friseur. Er entlockt mir ein lautes Lachen, als er im iranischen Rock’n Roller Style zurückkommt – mit Tolle und Föhnfrisur.  (Leider darf ich kein Bild online stellen). Stimmt ja, es ist Faschingsdienstag, und die Welt dreht sich weiter – vorerst zumindest.

Auto fahren im Iran, Teil 4:
Wir empfehlen allen Verkehrsteilnehmern, die ihr Leben lieben, auf der Strecke zwischen Zanjan und Tabris dringend auf der kostenpflichtigen Autobahn zu fahren. (Diese kostet nur minimal, und oftmals wurden wir an den Mautstationen einfach durchgewunken). Die iranischen LKW-Fahrer sparen sich nämlich die Gebühr und benutzen die gebührenfreie Landstraße parallel zur Autobahn. Sie überholen und fahren so riskant, dass die Überlebenschancen – ungelogen – bei circa 50% liegen!!!

Auto fahren im Iran, Teil 5:
Kann mir bitte jemand erklären, warum iranische Autofahrer erst bei absoluter Finsternis ihr Licht einschalten (wenn überhaupt)? Wir wagen es, unsere Scheinwerfer bereits bei Dämmerung einzuschalten, sehr zum Ärger der Einheimischen.

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Mittwoch, 18.02.2015
In Tabris lernen wir Abdoul* aus Freiburg* (Name und Ort geändert) kennen. In einem angenehmen Bühnendeutsch erzählt er uns seine traurige Geschichte: Abdoul ist in Freiburg aufgewachsen, halb Iraner und

halb Deutscher. Seine Eltern haben sich scheiden lassen, als er noch sehr klein war. Als er fünf Jahre alt war, entführte ihn sein Vater in den Iran. Seine Mutter fand ihn nach einiger Zeit und holte ihn zurück nach Deutschland. Als Erwachsener wollte er seinen Vater neu kennenlernen und im Iran besuchen. Dort wollte man ihn sofort zum Militärdienst einziehen. Sein Vater ließ seinen deutschen Pass verschwinden. Nun sitzt er seit über fünf Jahren im Land fest und kann nicht mehr zurück nach Deutschland. Irgendwie muss er nun beweisen, dass er mehrere Jahre im Besitz einen deutschen Passes war, Geburtsurkunden und Einträge der deutschen Meldebehörden auftreiben und vorlegen. Er will unbedingt zurück nach Deutschland, ist aber nun bereits so lange hier, dass er  mittlerweile versucht, sich im Iran  ein Leben aufzubauen. Dazu arbeitet er sieben Tage die Woche, 12 Stunden täglich, in einer Imbissbude, für 250 Euro monatlich. Obwohl man ihm seine Zerissenheit und Erschöpfung deutlich anmerkt, nimmt er sich nach Feierabend noch Zeit für uns und lädt uns zu sich nach Hause ein.

Ein anderer Iraner erzählt uns ebenfalls Horrorgeschichten: Auf Alkoholkonsum stehen drakonische Strafen, zumeist eine Geldbuße und Peitschenhiebe. Bei den Hieben wird unterschieden zwischen den leichten (das sind die, bei denen der Vollstrecker den Koran unter dem Arm geklemmt hat) und den harten, bei denen die Peitsche voll durchgezogen wird.

Ein Dritter jammert unaufgefordert über die schlechten Karrierechancen im Iran.
Der studierte Informatiker arbeitet nun als Taxifahrer. Gerne würde er in die Türkei auswandern, aber – laut seiner Aussage – erhalten Männer erst nach erfolgreich absolvierter, zweijähriger Militärzeit ihren Pass.

Donnerstag, 19.02.2015
Abdoul* (Name geändert) vermittelt uns den Kontakt zu den Rucksackreisenden Salome und Christoph aus Bad Tölz, die gerade in Tabris angekommen sind. Wir treffen uns, um gemeinsam ein Teehaus zu besuchen und ein wenig durch den berühmten Basar zu streifen. Abends verabreden wir uns noch einmal in einem Café am Stadtrand, das von Künstlern frequentiert wird.  (Es befindet sich in der Nähe der Moschee, bei Razi Hospital – Richtung El Goli Park – den Namen des Cafés habe ich leider vergessen). Dieses ist in Tabris eine Besonderheit. Sowohl Männer wie Frauen sitzen hier in lockerer Runde beisammen. Das Café ist liebevoll eingerichtet und mit Zeichnungen und Skizzen dekoriert. Serviert wird Pasta auf bunten Tellern, Tees und Fruchtcocktails. Wir treffen auf Designer, Fotografen und Künstler, alle  Anfang zwanzig. Die Jungs sind Sprayer (Bansky Style) und haben gerade eine Ausstellung in London, an der sie aber leider nicht teilnehmen können, da sie kein Visum erhalten und sich so einen Ausflug auch gar nicht leisten können. Die jungen Frauen in der Runde sind Grafik-Designerinnen. Für iranische Verhältnisse sind sie wahrscheinlich ziemlich Avant-Garde: Sie dürfen immerhin bis Mitternacht ausgehen und mit jungen Männern in modischen Caféhäusern abhängen. Dann müssen sie aber doch nach Hause. Mit dem Rest der Gruppe drehen wir noch frierend zwei Runden im El Goli Park, rund um den großen, künstlich angelegten See – das klassische iranische Ausgehvergnügen „Walking in the park“.

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Freitag, 20.02.2015
Kandovan (ein kleiner Ort nördlich von Tabris) wurde uns als die Touristenattraktion schlechthin angepriesen. Tatsächlich ist das malerische Dorf, dessen Behausungen zum Teil in den Felsen geschlagen wurde, sehr hübsch und erinnert anggeblich an Kapadokien in der Türkei. Die Bewohner sind geschäftstüchtig und verkaufen getrocknete Kräuter, selbstgestrickte Socken und Wolltaschen an die zahlreichen Touristen. Aber nach einer halben Stunde hat man dann auch das meiste gesehen. Wir sind trotzdem glücklich, hier zu sein. Die Sonne strahlt hell über die verschneite Landschaft, und in uns erwacht ein heimeliges Weihnachtsmarktgefühl.

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Weiter lesen: Meghri, Armenien
Und das war vorher: Die Hadschas von Esfahan