Flucht aus Afrika (3)

Ggf. vorher lesen: Teil 1 und Teil 2 unserer Flucht aus Afrika (Elfenbeinküste)

Sonntag, 22.03.2020 Elfenbeinküste, Abidjan

Zurück bei Chloe:  Ich werfe noch einen letzten Blick auf Frau Scherer. „Mach‘s gut, du oller Karren! Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder. Bye bye!“

Die Portugiesen (Rita, Fernando und Baby Jaschka), so erfahre ich noch beim letzten Elephant‘s Klatsch, wurden von Chloe in Quarantäne gesteckt. Sie dürfen nun ihr kleines Häuschen im Innenhof nicht mehr verlassen. Chloe kennt da kein Pardon: „Stell dir vor: Fernando ist im Sammeltaxi zum Windelholen gefahren. Da ist die Ansteckungsgefahr doch riesig.“ Dass Martin und ich soeben noch am Flughafen Schlange gestanden sind und – nach den selbst gesteckten Regeln – eigentlich auch nicht mehr das Compound betreten dürften, blendet die Übermutter hingegen völlig aus.

Keke, unser Taxifahrer ist überpünktlich. Chloe hat Tränen in den Augen, als wir in das Auto steigen. Statt einer Umarmung verabschieden wir uns mit dem doppelten Ellenbogen von ihr. Ihr Ziehsohn Patrick guckt traurig und fragt, wann und ob wir wiederkommen. Ich sage: „Schon bald!“ und „Dann mach ich dich beim Kickern fertig!“ Wir grinsen beide. Jason, der nette Engländer, wirft mir noch drei Zigaretten zu. „Safe trip! Good luck!“

Am Flughafen darf Frau Scherer nicht stehen bleiben. Sie passt nicht durch die Höhenbeschränkungen.

Am Flughafen: Zur Abwechslung haben wir auch mal etwas richtig gemacht und Sidi die letzten Tage unaufgeregt an seine Hundebox gewöhnt. Jetzt geht er sogar freiwillig hinein. Nur als sich die Gittertür hinter ihm schließt, guckt er komisch und überprüft mit seiner Pfote, ob da jetzt wirklich zu ist. Dann rollt er sich aber zusammen und scheint es dort drinnen ganz gemütlich zu finden. Seltsames Gefühl, den Hund wie ein Gepäckstück abzugeben… Die Mitarbeiter am Sperrgutschalter betteln noch um ein Trinkgeld. Als Heppo nur 1000 CFA gibt (etwa 1,50 Euro) machen wir uns wenig später schon Gedanken, ob Sidi da drinnen auch gut behandelt wird. Wahrscheinlich hätte es nicht geschadet, wenn wir großzügiger gewesen wären. Unsere tollen Hundedokumente (Gesundheitszeugnis, Europäischen Heimtierausweis, Air France Dokument) will übrigens niemand sehen, was mich jetzt fast schon ein wenig ärgert.

Noch über zwei Stunden bis zum Abflug: Wir folgen Chloes Tipp und gehen nahe dem Flughafen in einen Biergarten. In der Elfenbeinküste  heißt so einer “Maquis”. Dort trinken wir leckeres Bier und essen noch einen Happen.

Pünktlicher Abflug. Das Flugzeug ist voll. Mir ist schlecht. Bauchweh. Turbulenzen. Bin schon lange nicht mehr geflogen.

Montag, 23.03.2020, Paris / Straßburg / Nürnberg

Landung gegen 6.00 Uhr morgens (nach etwa 6 Stunden Flug). Gefühlt haben wir keine Sekunde geschlafen.

Einreise in die EU: Niemand misst Fieber. Desinfektionsmittel? Fehlanzeige! Ich scheitere an der automatischen Gesichtserkennung. Muss bei einem echten Polizisten vorbei, der mich durchwinkt. Kleiner Trost: Martin schafft es auch nicht durch die Schleuse, Heppo seltsamerweise aber schon. Da stimmt doch was nicht?!

Martin hatte die gute Idee, sich einen Leihwagen zu nehmen. Diese hatten aber andere vor uns ebenfalls. Es gibt keine verfügbaren PKWs zu mieten und schon gar nicht nach Deutschland. Ein einziger wäre etwas später ab dem Gare du Nord frei . Die Zusatzgebühren für die “einfache Überführung” liegen allerdings  bereits bei 1800 Euro. Die eigentliche Leihgebühr oder die Kilometer sind in diesem Preis noch gar nicht enthalten!

Am Gare du Nord ist die Stimmung angespannt: Seltsame Mischung an Leuten – Obdachlose, zwielichtige Gestalten und bis unter die Zähne bewaffnete Flics. Von einer Polizistin werde ich richtig übel angegangen: „Was macht ihr hier? Schaut, dass ihr weiterkommt! Verpisst euch in euer Land!“ und „Was stimmt eigentlich nicht mit dir, dass du mit zwei Männern unterwegs bist?“ Meine Erklärungsversuche interessieren sowieso nicht. Stattdessen kassieren wir einen Platzverweis: „Wenn ich euch heute Nachmittag noch hier sehe, dann passiert was!“

Mittlerweile sind wir aber nicht mehr die einzigen Gestrandeten. Langsam füllt sich der Bahnhof mit Menschen aus aller Welt. Alle studieren mit Entsetzen die Anzeigetafeln mit den Abfahrtszeiten und sind ähnlich ratlos wie wir: Zug nach Brüssel  – gestrichen. Zug nach Amsterdam – gestrichen. Zug nach Frankfurt -gestrichen. „Rien ne va plus!“

Bitterkalt ist es. Alle Geschäfte haben zu. Sämtliche Toiletten sind verschlossen und verbarrikadiert. Ich muss pinkeln. Unsere Nerven liegen blank. Sogar Martin, der Optimist, wirkt deprimiert. Meine Mama daheim halte ich mit verschiedenen Rechercheaufgaben auf einem hohen Stresspegel. Fast minütlich gebe ich der Armen neue Anweisungen durch und bombardiere sie mit Fragen: „Guck mal nach Unterkünften in Paris! Wie ist die Situation an der deutschen Grenze? Stimmen die Gerüchte, dass absolut niemand mehr einreisen darf, dass die Grenze komplett dicht ist? Gibt es überhaupt noch Züge nach Deutschland?“

Unser neuer Plan: Mit dem Zug nach Straßburg, dann irgendwie weiter, und sei es zu Fuß. Der letzte fährt um 12.30 Uhr. Alle folgenden Verbindungen wurden bereits gecancelt. Eine Stunde haben wir noch Zeit bis zur Abfahrt. Zu Fuß machen wir uns auf den Weg zum Gare de l‘Est. Gar nicht einfach, wenn man eine Hundetransportbox Größe L mit sich führt. Dafür ist Sidi ganz wunderbar. So einen aufmerksamen Hund hatten wir selten. Er achtet sehr darauf, dass wir alle zusammenbleiben, folgt wie nie zuvor und fährt sogar Rolltreppe (!) mit mir.

Die Innenstadt von Paris ist wie ausgestorben. Wir müssen an die Anfangsszene von Twelve Monkeys denken und würden uns jetzt  gar nicht wundern, wenn ein Löwe auf einem Hausdach hin und her spazieren würde.

„Mist, der Bahnhof ist zugesperrt!“ Der Gare de L‘Est ist von einem Metallzaun umgeben. Kein Hinweis. Nichts. „Das kann doch nicht wahr sein.“ Martin hat die rettende Idee: „Bestimmt gibt es einen Zugang über die Metro!“ Und tatsächlich, über den U-Bahn-Eingang gelangen wir in den Bahnhof. Der Zug nach Straßburg steht auf seinem Gleis. Und sogar ein kleiner Supermarkt hat geöffnet. “Alles wird gut!” Die Jungs kaufen Brot und Käse, während ich mit Sidi schon mal unsere Plätze im Abteil aufsuche. Als sich der Zug in Bewegung setzt, löst sich ein Teil unserer Anspannung.
„Endlich raus aus Paris!“, seufzt Heppo erleichtert.
„Hauptsach’, ein Häusl weiter!“, atme ich auf.
Und Martin, mit vollem Mund: „Ah, Brotzeit! Des ist wia a Religion für mi!“

Nicht schön: Flüchtling sein!

Um 15.30 Uhr sind wir in Straßburg. Meine Eltern waren unterdessen fleißig. Sie haben bei der Bundespolizei angerufen und erfahren, dass der Grenzübertritt für deutsche Bundesbürger kein Problem darstellt und auch, dass von Straßburg nach Kehl ein Regionalzug verkehrt.

Wir müssen etwa eine Stunde warten, bis wir die Fahrt fortsetzen können. Mit Sidi trete ich vor das Bahnhofsgebäude. Der Hund muss schließlich auch mal. Kein Auto weit und breit. Nur wenige Passanten. Dafür wieder Polizei. Ich erfahre, dass man in Frankreich einen Passierschein benötigt, den man sich zuvor aus dem Internet herunterladen muss. Gruselig!

Weiter nach Kehl: Dort werden wir von drei Polizisten in voller Montur in Empfang genommen. Nach dem Vorzeigen unseres Reisepasses dürfen wir uns innerhalb des kleinen Bahnhofs frei bewegen. Beim Bäcker kosten 0,3 Liter Wasser 2,50 Euro; solche unverschämten Preise bin ich nach Afrika gar nicht mehr gewöhnt. Zum Essen gibt es nichts: Alles ausverkauft!  Eine ältere Obdachlose mit langen, sorgfältig manikürten Fingernägeln sitzt in der Unterführung und wärmt sich die Hände an einem Pappbecher mit Automatenkaffee. Sie bedankt sich höflich, als ich ihr ein paar Cent gebe. Als ich nach oben zum Bahnsteig gehe, höre ich, wie sie irre lacht, kreischt, schreit und heult. Ich kann sie verstehen! Ich würde am liebsten mit ihr mitweinen. Schrecklich, wenn man jetzt kein Zuhause hat.

Weiter geht es mit der Regionalbahn nach Appenweier, von dort  nach Karlsruhe und endlich mit dem IC nach Nürnberg. Fast überall sind wir die einzigen.

In Nürnberg am Bahnhof: Wieder nur Alkoholiker, Obdachlose und nervöse Polizeibeamte. Einer offensichtlich schwer unter Drogen stehenden und hustenden Frau wird von den Berufsrambos gerade eine Gesichtsmaske aufgenötigt.  Die Alkis vor der Tür finden das witzig. Reisende gibt es fast keine mehr. Nur ein junger Mann ist da, der nach einem Schlafplatz sucht. Ich frage mich, ob sein spitzer Chinesenhut ein politisches Statement darstellt? Und, wenn ja, wofür? Stattdessen frage ich ihn, wohin er denn reisen möchte:  “Czech Republic!”, antwortet er. Ich wünsche ihm Glück.

Endlich meldet sich Heppos Bruder Christian am Telefon: Er wartet vor dem Bahnhofsgebäude auf uns. Eigentlich wollen wir lieber Abstand halten, waren wir doch an zwei Flughäfen und an diversen Bahnhöfen, aber Christian ist schneller als wir. Herzlich umarmt er uns: „Ist jetzt auch schon wurscht!“ nuschelt er verlegen, und „Schön, dass ihr wieder da seid!“