Flucht aus Afrika (1)

Songtipp: My Sharona – The Knack
(Das Lied hab ich seit Corona irgendwie als Ohrwurm im Kopf: Ay, Corona!)

Ende Februar dachte in Kpalimé, Togo noch niemand an “social distancing…”

Dienstag, 25.02.2020, Togo, Kpalimé
Das erste Mal höre ich von Corona am 25. Februar. Mein Papa hat an diesem Tag Geburtstag, und er erzählt mir davon. Er wirkt beunruhigt und erwähnt die Möglichkeit einer globalen Pandemie. Wir sind gerade in Togo und helfen mit, ein Yoga- und Reggaefestival zu organisieren. Europa ist weit weg und Deutschland ebenfalls. Über Corona spricht hier niemand. Das Festival ist toll, die Leute sind nett. Wir haben eine wunderbare Zeit.

Als kurz darauf Leute mit akuter Malaria bei uns mit am Tisch sitzen und fiebrig mit den Zähnen klappern, verschwenden wir zwar Gedanken an unsere Gesundheit, aber nicht an das neuartige Virus namens Covid 19. Es heißt ja, dass es die warmen Länder nicht so gerne mag.

Auch wenn es uns in Togo gerade sehr gut gefällt, so dränge ich doch auf Aufbruch und eine Weiterfahrt in Richtung Ghana. Erste Niederschläge erinnern uns an die nahende Regenzeit und daran, besser unseren Zeitplan einzuhalten: Über Ghana soll es in die Elfenbeinküste gehen, weiter in Richtung Guinea und Senegal.

Montag, 09.03.2020, Ghana, Accra & Tema
Wir beantragen unser Visum für die Elfenbeinküste. Der Typ an der Botschaft treibt uns mit seinem Bürokratismus fast in den Wahnsinn. Angeblich erhalten wir die Dokumente aber schon am Mittwoch.

Leider haben wir mittlerweile massive Probleme mit unserem Auto: Die Steuerung ist kaputt. Wir denken über eine Verschiffung ab Accra/Tema nach. Corona spielt bei dieser Überlegung so gut wie keine Rolle. Die MAN Werkstatt VanVliet könnte uns bei der Verschiffung behilflich sein. Aber alles ist nicht so einfach. Unseren Hund ausfliegen zu lassen ist übrigens echt kompliziert…

Dienstag, 10.03.2020, Ghana, Tema
Italien lässt seine Bürger nicht mehr ausreisen und macht die Grenzen dicht. Krass!
Am LKW entdeckt Heppo eine Nachstellschraube. Ein Lösungsansatz? Vielleicht müssen wir Frau Scherer doch nicht auf einem Containerschiff heimschicken?

Mittwoch, 11.03.2020, Ghana, Tema & Accra
Autoreparatur – und es sieht gut aus. Schließlich stellt sich heraus: Wir können weiter. Die Wartezeit bis zur Visumsabholung überbrücken wir in Accra im stacheldrahtumzäunten Innenhof eines Mehrparteienhauses, wo das amerikanische Lehrerehepaar Polly und Leo wohnt. Die beiden sind ganz wunderbare Menschen, die wir bereits bei unserer ersten Fahrt durch Ghana kennengelernt hatten.

Donnerstag, 12.03.2020, Ghana, Accra
Unsere Visa holen wir mit einem Tag Verspätung ab. Ab dem 17.03. dürfen wir in die Elfenbeinküste einreisen.

Freitag, 13.03.2020, Ghana, Accra
Als wir mit Polly und Leo am Frühstückstisch sitzen, erhalten beide eine E-Mail von der Schulleitung: Der erste Coronafall in Accra, Ghana! Polly wird kreidebleich und verschwindet, um zu telefonieren. Es zeichnet sich ab, dass Ghanas Schulen ab sofort geschlossen werden. Nur von Leo verabschieden wir uns schließlich. Wir sind noch immer nicht sonderlich beunruhigt.

Samstag, 14.03.2020 – Montag, 16.03.2020, Ghana, Busua Beach
Unbesorgt fahren wir weiter an den Strand nach Busua, wo wir zwei wunderschöne, unbeschwerte Tage verbringen und sogar noch Angeberfotos für Instagram mit unseren neuen, afrikanischen Anziehsachen machen. Freunde aus Deutschland schreiben: „Bleibt in Afrika. So entkommt ihr wenigstens dem ganzen Wahnsinn hier!“

Aber plötzlich überschlagen sich die Ereignisse: Auf der Whatsapp Westafrican Traveler Group heißt es nun, dass auch die Elfenbeinküste zeitnah ihre Grenzen schließen wird. Mist, unser Visum beginnt erst am Dienstag. Eilig packen wir alles zusammen und fahren 250 Kilometer bis zu einer Tankstelle kurz vor die Grenze, in der Hoffnung, dass die Order nicht gleich zügig umgesetzt wird.

Elephant’s Nest

Dienstag, 17.03.2020, Ghana & Elfenbeinküste
Unbehelligt kommen wir am Morgen über die Grenze. Gegen Mittag, so erfahren wir, ist diese allerdings dann bereits geschlossen.

Am Nachmittag treffen wir am Elephant‘s Nest ein, der Lodge der WAT Moderatorin Chloe in Grand Bassam, einem Vorort von Abdidjan. Außer uns sind vor allem Backpacker und Radfahrer da: Fernando und Rita aus Portugal mit Baby Jaschka, Ben aus den USA, Patrick aus Canada, Atillio aus Australien und Jason aus England. Ben, Patrick und Atillio werden die nächsten Tage abreisen.

Chloe ist ein Phänomen – eine Figur wie aus einem Superhelden-Comic. Wenn es sie nicht gäbe, müsste man sie erfinden. Die über 60jährige Irin ist eine dynamische Persönlichkeit, die mit ihrem Handy verwachsen scheint. Sie raucht Kette und trinkt gerne Alkohol. Ihre Angestellten kommandiert sie laut schreiend herum. Außerdem scheint sie eine Übermutter zu sein, die sich um alle Probleme der Reisenden kümmert. Nebenher ist sie die Aircrafts Managerin von Cabo Verde Airlines, leitet eine NGO (Waisenhaus), betreut die Lodge, die Reisegruppe – und hat den kleinen Patrick adoptiert.

Hier ist so etwas wie eine  Einsatzzentrale: Im Sekundentakt bekommen wir die SOS-Notrufe von anderen Reisenden mit und werden Zeuge von Chloes immer hektischer werdenden Hilfsversuchen und ihren Telefonaten mit Menschen in wichtigen Positionen. Chloe scheint alle zu kennen und Beziehungen bis in höchste Kreise zu haben.

Mittlerweile häufen sich die Nachrichten von Grenzschließungen. Unser Plan, weitere Visa zu besorgen und so rasch wie möglich in Richtung Senegal oder Marokko zu kommen, zerschlägt sich schnell. An eine Weiterfahrt ist nun nicht mehr zu denken. Die Schulen hier m Land sind ebenfalls bereits seit Montag geschlossen.

Mittwoch, 18.03.2020, Elfenbeinküste, Grand Bassam
Wir nehmen mit der deutschen Botschaft Kontakt auf und tragen uns in die Krisenvorsorgeliste Elefand ein. Flüge (nach Paris) soll es offiziell nur noch bis Sonntag geben. Es heißt, der Flughafen wird zeitnah geschlossen. Bei Telefonaten mit Air France erfahren wir, dass unter den momentanen Umständen keine Hunde mitgenommen werden können. Ähnliches hören wir von der Botschaft: „Hunde haben im Evakuierungsfall keine Priorität!“ Oh nein!

Die Neuzugänge im Elephant‘s Nest sind Martin aus Eichstätt und Mitchel aus Canada. Martin ist nach eigenen Aussagen Optimist: „So a Glück muss ma erst mal hab’n. Letzte Woch’ hams ma mein Geldbeutel mit Kreditkartn ‘klaut, und etz seids ihr zwei da, aa aus Bayern!“
Ich bin heilfroh, dass Martin kein Pessimist ist. Weitere Lichtblicke: Es gibt eine Tischtennisplatte und einen Kickerkasten. Chloes Ziehsohn Patrick wird mein Hauptherausforderer. Schön! Beim Spielen kommt man wenigstens auf andere Gedanken!

Donnerstag, 19.03.2020, Elfenbeinküste, Grand Bassam
Die Botschaft ruft mich an. Angeblich gehen nur noch zwei reguläre Flüge, heute und morgen, danach nicht mehr. Und wir müssen uns selbst um die Tickets kümmern. Schnell zum Flughafen also! In Abidjan gibt es zwei Air France Büros, eines im Stadtteil Plateau, das andere am Flughafen. Wir entscheiden uns für das Büro am Airport, das aber erst gegen Mittag öffnet. Vorher fahren wir noch zum Tierarzt, um uns ein Internationales Gesundheitszeugnis zu besorgen (Kosten: 20 Euro).

Am Flughafen gibt es keine Möglichkeit für Frau Scherer zu parken; die Höhenbeschränkung bildet ein unüberwindbares Hindernis. Die Zufahrt über den Evakuierungsweg (mit umklappbaren Schranken und keinerlei Höhenbeschränkung) will man uns jedoch nicht gestatten. Sowieso egal, denn nach langem Schlangestehen am Air France Schalter erfahren wir, dass die Tickets für beide Flüge tatsächlich schon weg sind. Schnell fahren wir noch in die einzige Tierhandlung weit und breit (“Orca”, in Abidjan). Wir ordern eine Hundebox Größe L für ca. 230 Euro, damit wir für den Fall der Fälle gewappnet sind.

Im Elephant‘s Nest hatten wir eigentlich für den heutigen Abend eine Krisensitzung/Plenum anberaumt, aber Chloe fehlt. Als sie zurückkommt, ist sie betrunken, lallt und schläft über ihrem Bier am Gemeinschaftstisch ein. Ich bewahre sie mehrmals davor, in ihr Bierglas zu fallen.

Elephant’s Nest

Freitag, 20.03.2020
Es wird zunehmend klar, dass wir uns im Elephant‘s Nest verschanzen werden müssen. Ab Sonntag vereinbaren wir einen freiwilligen Lockdown. Heppo und ich plädieren auf gemeinsame Aktionen gegen den Lagerkoller (Telegymnastik mit Johanna Fellner und Yoga). Fernando und Rita finden die Idee sehr gut. Jason ist eher schweigsam und zurückgezogen. Der drahtige Engländer sucht aber unsere Nähe und freut sich über meine Gemüsesuppe. Mitchel, Typ Surfboy, nutzt die Gelegenheit, um als digitaler Nomade Arbeiten zu erledigen und hält fleißig Telefonkonferenzen mit Canada ab. Auch er separiert sich. Martin setzt sich ebenfalls vor den Computer.

Hoffnungsschimmer: Anruf von der deutschen Botschaft. Eventuell gibt es nächste Woche noch einen Sonderflug für die verbliebenen ausreisewilligen Deutschen, angeblich nur 20 an der Zahl.
Wir halten nochmal kurz inne: In Abidjan gibt es bisher nur 9 bestätigte Coronafälle, in Deutschland sind es bereits 18.000. Macht es wirklich Sinn, nun fluchtartig das Land zu verlassen – ohne Frau Scherer? Der Mitarbeiter der Botschaft meint dazu: „Richtig, Sie würden von einem Niedrigrisikogebiet in ein Hochrisikogebiet fahren. Allerdings ist die Gesundheitsversorgung hier sehr schlecht. Wenn Corona ausbricht, gibt es in der Elfenbeinküste vor allem nicht genügend Liegebetten.Bitte beziehen Sie das in Ihre Überlegungen mit ein!“

Ja, wir möchten nach Hause, denn dort sind unsere Freunde, die Familien und unser Hof. In Afrika scheint die Stimmung außerdem zu kippen. Auf der Straße wird “Coronavirus” hinter uns hergerufen. Der chinesische Radfahrer, der uns mit der gehissten Flagge seines Landes an der Grenze Ghana/Elfenbeinküste entgegenkam, wurde zusammengeschlagen. Viele Reisende berichten von Anfeindungen. Im öffentlichen Raum sieht man plötzlich viele maskentragende Menschen. Vor jedem noch so kleinen Supermarkt gibt es Desinfektionsmittel plus Securities, die die Händedesinfektion überwachen und koordinieren.

Telefonat mit meinem Bruder: „Ab heute Nacht 24 Uhr haben wir nun eine Ausgangssperre in Bayern! Das macht mir Angst!“
Auch manche Freunde reagieren paranoid: „Ich glaube langsam nicht mehr an die Sinnhaftigkeit der ganzen Maßnahmen. Da geht es um etwas anderes. Die Sache stinkt doch zum Himmel!“

Ich fühle mich entschlossen und stark, fast schon etwas radikal. Alles, was getan werden muss, werde ich machen. Ich denke tatsächlich sogar darüber nach, im Ernstfall Sidi zurückzulassen oder ins Tierheim zu geben – widerwillig natürlich und hoffentlich nur vorübergehend. Für Heppo kommt diese Option aber überhaupt nicht in Frage. Lieber würde er mich alleine zurückfliegen lassen. Wir einigen uns: Also gut, entweder fahren wir alle gemeinsam – oder eben keiner!

Ich erlaube mir weder große Gefühle noch Sentimentalitäten, stürze mich stattdessen in Sport, Routine, Ablenkung, Aktionismus, Recherchen und Vorbereitungen für eine schnelle Abreise. In den wenigen freien Minuten, die mir bei diesem selbst auferlegten Programm bleiben, lese ich Rüdiger Nehberg: Die Kunst zu überleben. Leider finde ich aber nur wenig Brauchbares darin. Autogenes Training soll angeblich helfen, um mental stabil zu bleiben und Stresssituationen gut und unbeschadet zu meistern. Leider habe ich aber überhaupt keine Ahnung, wie das gehen soll. Eine genaue Anleitung dazu fehlt in dem sehr allgemein gehaltenen Büchlein. Wahrscheinlich ist da bei mir sowieso schon so eine Art  Überlebensmechanismus am Werk. Trotzdem bleibt auch noch Zeit zu zweifeln: Was ist das für ein seltsamer Realitätsshift? Ist nicht doch alles nur ein Traum? Globale Pandemie? Ehrlich? Das kann doch wohl nicht wahr sein!

Am Nachmittag fahren wir mit Chloe nach Abidjan, um unsere Hundetransportbox abzuholen. Chloe fährt mit irrsinniger Geschwindigkeit über die dreispurige Stadtautobahn, die Grad Bassam mit der Hauptstadt verbindet. Sie hupt und schimpft und schreit dazu in ihr Autotelefon. Alle und jeder werden herumkommandiert, sogar die Polizei steht vor Chloe stramm. Was für eine Frau! Eine Mutter Courage! Bei ihrem wahnwitzigen Fahrstil fürchte ich allerdings mehr als einmal um unser Leben.

Bei Orca: Die Hundebox ist da! Hurra! Aber nun sind wir  230 Euro ärmer.

Mit Chloe geht es in affenartiger Geschwindigkeit zurück zur Lodge, vorbei an Militär und Polizeiposten. „Unusual!“, sagt sie. Dann geschieht etwas Seltsames: Plötzlich bin ich ganz ausgezeichneter Laune. Ich stecke meinen Kopf zum offenen Fenster hinaus in den warmen Fahrtwind. Der Tod ist nah, und dadurch fühle ich mich frei. Ich habe keine Angst mehr, denn alles ist relativ. Und ich weiß genau: Heute werde ich nicht sterben und auch nicht morgen. Ein Mädchen mit lilafarbenen Schmetterlingsflügeln auf dem Rücken schwebt vor uns über die Straße. Das ist ganz real – und wirkt doch zugleich wie aus einem Traum. Neben mir beginnt Chloe zu kichern: „I knew it’s him: Michel fucking Jackson, the best policeman in town!“. Und tatsächlich, eine schwarze Version von Michael Jackson tanzt auf der Kreuzung vor uns seinen Moonwalk, lässt seine weißen Handschuhe durch die Luft wirbeln und zaubert den Autofahrern ein Grinsen ins Gesicht…

Warme Liebe durchströmt mich, für Afrika und für die ganze verdammte Menschheit.

Hundebox gekauft: Was für ein Glück, dass es in Abidjan eine richtige Tierhandlung gibt